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Streiks in Deutschland | DGB-Chefin: "Das muss dann auch mal wehtun"


DGB-Chefin Fahimi
"Das muss dann auch mal weh tun"


Aktualisiert am 19.03.2023Lesedauer: 6 Min.
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DGB-Demonstration zum 1. Mai (Archivbild): Wenn es keine angemessenen Angebote der Arbeitgeberseite gebe, werde Ende Mai deutschlandweit gestreikt, so DGB-Chefin Fahimi. (Quelle: IMAGO/Alexander Pohl)

Mit Streiks wollen Millionen Beschäftigte gerade höhere Löhne erzwingen – und nehmen dabei Stillstand im ganzen Land in Kauf. Wie DGB-Chefin Yasmin Fahimi diesen Schritt rechtfertigt.

Deutschland stehen Chaostage bevor, Streiks drohen das komplette Land lahmzulegen. Nach einem Jahrzehnt mit moderaten Tarifabschlüssen drehen die Gewerkschaften jetzt richtig auf: Angesichts der hohen Inflation fordern sie für einzelne Branchen bis zu 14 Prozent mehr Geld.

Eine, die sich über diese Entwicklung nur freuen kann, ist Yasmin Fahimi. Die frühere SPD-Bundestagsabgeordnete steht seit gut einem Jahr als erste Frau an der Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). t-online hat sie in Berlin zum Interview getroffen. Ein Gespräch über die Arbeitsmoral der Deutschen, die Rolle von Geld bei den Tarifverhandlungen und den Beißreflexen mancher Arbeitgeber.

t-online: Frau Fahimi, am 27. März sollen Streiks den Bahn- und Flugverkehr lahmlegen, es droht Chaos im ganzen Land. Haben Sie da kein schlechtes Gewissen?

Yasmin Fahimi: Warum sollte ich? Bis dahin ist ja noch ausreichend Zeit für die Arbeitgeber, mit ordentlichen Angeboten Streiks zu vermeiden. Tut sich da nichts, muss man den Druck mit Augenmaß erhöhen. Einschränkungen für die Bevölkerung lassen sich dabei leider nicht ausschließen. Das gehört in einer Demokratie dazu.

Ist es denn noch Augenmaß, wenn kein Flieger fliegt, kein Zug mehr fährt?

"Kein" stimmt nicht, denn es wird natürlich Notfallpläne geben. Beim Streik an den Flughäfen war zuletzt auch sichergestellt, dass Flugzeuge mit Hilfsgütern für die Erdbebenopfer in der Türkei trotzdem starten konnten. Ähnliches gilt in Krankenhäusern bei lebenswichtigen Operationen oder in der Industrie beim Betrieb von Kraftwerken.

In der Vergangenheit hieß es oft: Deutschland kann keinen Streik, die Gewerkschaften sind zu schwach. Erleben sie jetzt ihre große Renaissance?

Wir spüren tatsächlich einen starken Vertrauenszuwachs. Viele Beschäftigte merken, dass sie ihre Interessen im kollektiven Verbund besser durchsetzen können. Das nennen wir Solidarität. Zugleich führt die aktuell sehr hohe Inflation dazu, dass das Einkommen vieler Menschen nicht mehr zum Leben reicht. Das zeigt: Wir brauchen starke Gewerkschaften, die mehr für die Arbeitnehmer herausholen.

Und Streiks organisieren.

Streiks zeigen, wie wichtig die Arbeit der Beschäftigten ist und dass Löhne nicht der Willkür von Arbeitgebern unterliegen dürfen. Das muss dann auch mal wehtun. Schließlich geht es für Deutschland um die Frage, wie wir unser Wohlstandsmodell erhalten können.

Dieses Modell basierte in den vergangenen Jahren auch darauf, dass die Gewerkschaften zurückhaltender auftraten als etwa in Frankreich. Sind diese Zeiten nun vorbei?

Diese These teile ich nicht. Wir waren nicht zurückhaltend, sondern verhandeln immer verantwortungsbewusst. In Frankreich soll mit Streiks und Demonstrationen Einfluss auf die Politik genommen werden, damit am Ende der Präsident positiv über Gesamtforderungen entscheidet. Unser System in Deutschland ist anders. In unserem Land verhandeln wir Gewerkschaften in einzelnen Branchen direkt mit den Arbeitgebern, damit die Beschäftigten ihren gerechten Anteil am erwirtschafteten Gewinn bekommen. Das halte ich für den viel besseren Weg, weil wir so passgenaue und flexible Lösungen finden, die letztlich auch der Wirtschaft nutzen.

Yasmin Fahimi (SPD), Jahrgang 1967, ist seit Mai 2022 Chefin des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Zuvor saß sie für die Sozialdemokraten im Bundestag und diente unter der damaligen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles als Staatssekretärin. Fahimi zählt zum linken Parteiflügel der SPD, deren Vorstand sie bis heute angehört. Sie ist mit Michael Zissis Vassiliadis liiert, dem Vorsitzenden der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie (IG BCE).

Am Ende aber geht es doch meistens nur ums Geld.

Das ist ja auch wichtig, aber darüber hinaus stehen viele andere Dinge im Fokus.

Nämlich?

Arbeitszeit, Urlaub, Altersvorsorge, Qualifizierung und vieles mehr. Im Pflegebereich etwa geht es den meisten Beschäftigten um einen besseren Personalschlüssel. Die arbeitenden Menschen dort gehen auf dem Zahnfleisch und können ihrem eigenen Anspruch auf gute Arbeit kaum mehr gerecht werden. Das schlägt sich auf ihre Gesundheit nieder, was zu noch mehr Ausfällen und damit noch höherer Belastung führt. Dennoch geht es in den Verhandlungen jetzt auch um eine faire Bezahlung. Es kann nicht sein, dass auf dem Rücken der Beschäftigten im Gesundheitssektor oder im öffentlichen Dienst der Staatshaushalt saniert wird. Die Politik muss hier endlich mutige Entscheidungen treffen.

Also lieber mehr Schulden machen?

Nein, diese Argumentation ist doch ein ganz alter Hut. Wir als Gewerkschaften machen genügend Vorschläge, wie die Einnahmen erhöht werden können, ohne dass es wehtut. Zum Beispiel mit einer Vermögenssteuer. Wer aber mitten in der Krise weder die Schuldenbremse noch einmal lockern noch Steuern erhöhen will, der legt den Staat lahm. Und das geht natürlich nicht.

Verdi hat für den Einzel- und Versandhandel gerade 14 Prozent mehr Lohn gefordert. Ist das angesichts von 6,9 Prozent Inflation im Jahr 2022 nicht übertrieben?

Zu den konkreten Tarifverhandlungen einzelner Branchen äußere ich mich nicht, das machen die Kolleginnen und Kollegen dort selbst am allerbesten. Grundsätzlich aber gilt: Die Forderungen versuchen einerseits den Inflationsschock von 2022 aufzufangen. Andererseits müssen natürlich auch die weiteren Preissteigerungen in diesem Jahr kompensiert werden. Wer da immer noch die Lohn-Preis-Spirale als Argument anführt, ist ideologiegetrieben, das ist nicht evidenzbasiert.

Viele Arbeitgeber sagen trotzdem: Große Lohnsprünge können wir uns wegen der hohen Energie- und Materialkosten nur leisten, wenn wir im Anschluss wieder die Preise erhöhen. Sorgen höhere Löhne dann nicht doch dafür, dass die Inflation immer weiter hoch bleibt?

Das ist die übliche Leier, aber davon lassen wir uns nicht erschrecken. Unternehmen wie die Post, aber auch aus der Industrie konnten zuletzt oft weiterhin große Gewinne einfahren, weil sie ihre Energiekosten einfach weitergegeben haben. Insofern müssen wir eher über eine Gewinn-Preis-Spirale reden.

Gefühlt sucht derzeit jeder Laden, jede Bäckerei, jede Kneipe Angestellte. Wo sind all die Leute eigentlich hin, die jetzt überall fehlen?

Die meisten von ihnen arbeiten – nur eben nicht mehr dort, wo sich jetzt die Lücken auftun, etwa in der Gastronomie. Seit der Wiedervereinigung waren noch nie so viele Menschen in Lohn und Brot wie jetzt. Nur ist eben der Bedarf in manchen Wirtschaftszweigen größer als das Angebot an Arbeitskräften. In solch einer Situation kommt es umso mehr auf gute Arbeitsbedingungen an, darauf, dass Unternehmen und ganze Branchen ihre Angestellten gut bezahlen. Der wichtigste Hebel für die Reduzierung des Fachkräftemangels sind höhere Löhne und gute Arbeitsbedingungen.

Aber höhere Löhne per se erschaffen doch nicht mehr Fachkräfte.

Natürlich braucht es auch in Summe mehr Arbeitskräfte, etwa durch Zuzug aus dem Ausland. Allerdings sorgen höhere Löhne durchaus dafür, dass wir das inländische Potenzial besser nutzen.

Wie genau meinen Sie das?

Es ist doch ganz einfach: Wird Arbeit durch bessere Bedingungen und höhere Bezahlung attraktiver, steigt gerade für Frauen der Anreiz, nicht nur in Teilzeit, sondern in Vollzeit zu arbeiten. Das weibliche Fachkräftepotenzial ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft, da müssen wir ran – nicht zuletzt mit einem partnerschaftlichen Einkommenssteuertarif, der Frauen nicht benachteiligt und zur Zuverdienerin degradiert.

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Der Chef des Arbeitgeberverbandes hat kürzlich gesagt, die Deutschen hätten zu wenig "Bock auf Arbeit". Ist das so?

Nein, das ist kompletter Unsinn. Die Deutschen leisten jährlich rund 1,7 Milliarden Überstunden – die meisten davon übrigens unbezahlt. Von "kein Bock auf Arbeit" kann da keine Rede sein, im Gegenteil: Wir sehen in vielen Branchen eher eine hoffnungslose Überlastung der Menschen. Viele können einfach nicht mehr, zum Beispiel in der Pflege. Da ein Kulturproblem erkennen zu wollen, ist fast schon zynisch.

Was er damit meinte, war wohl eher: Immer mehr Menschen ist die Freizeit wichtiger als die Erwerbstätigkeit.

Aber das ist doch auch gut so. Es handelt sich dabei häufig um Menschen, die eine klare Vorstellung vom Leben haben. Ich finde es gut, wenn mehr Leute Wert auf eine sinnstiftende Tätigkeit legen und wenn sie sich nicht mehr allein an Möglichkeiten des materialistischen Konsums orientieren.

Aber können wir uns eine solche Haltung angesichts des Fachkräftemangels leisten?

Diese Frage ist mir zu eindimensional. Natürlich brauchen wir möglichst viele Fachkräfte, damit wir unseren Wohlstand halten können. Zugleich müssen viele Arbeitsplätze aber auch attraktiver werden, etwa durch die Möglichkeit, dass ich als Angestellter in einer bestimmten Lebensphase meine Stunden ein wenig reduziere, um mich anderen Dingen zu widmen. Dafür können andere, vielleicht sogar die eigene Frau, auch mal wieder länger arbeiten. Es muss deswegen also nicht das gesamte Arbeitsvolumen in Deutschland sinken.

In England haben zuletzt mehrere Firmen mit einer Vier-Tage-Woche experimentiert. In Deutschland verweist gerade die Industrie darauf, dass sich das mit dem Schichtbetrieb kaum vereinen lasse. Stimmt das?

Nein, das ist totaler Quatsch. In den vergangenen Jahrzehnten gab es immer wieder enorme Veränderungen in den Schichtmodellen. Im vergangenen Jahrhundert gab es noch die Sechs-Tage-Woche – und siehe da: Heute ist die auch Geschichte. Ich denke: Die Vier-Tage-Woche ist überall möglich, man muss sie nur wollen.

Aber?

Viel spannender an diesen Studien ist, dass die Produktivität der Arbeitskräfte in den vier Tagen gar nicht sinkt, sondern sich sogar steigen kann. Also: Mit weniger Arbeit lässt sich mindestens dasselbe, zum Teil sogar mehr erreichen.

Woran liegt das?

Die naheliegendste Erklärung ist, dass sich die Arbeitnehmer an drei Tagen Wochenende besser erholen und dann konzentrierter an die Arbeit gehen. Ich finde, diesem Gedanken sollten wir uns öffnen.

Die meisten Arbeitgeber scheinen das nicht zu verstehen.

Den Eindruck habe ich leider auch. Ich wundere mich immer wieder über den Beißreflex mancher Arbeitgeber in solchen Fragen. Vielen fehlt es da an Fantasie. Das ist sehr schade.

Vielen Dank für dieses Gespräch, Frau Fahimi.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Yasmin Fahimi in Berlin
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